Deutschland leistet sich ein extremes Nichtwissen
Interview mit Melanie Wendling, bvitg

Melanie Wendling ist seit 2004 im deutschen Gesundheitswesen aktiv. Begonnen hat sie als persönliche Referentin der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt – zu einer Zeit also, in der das Gesundheitsmodernisierungsgesetz in Kraft getreten ist und die Grundzüge von Telematikinfrastruktur und gematik gelegt wurden. Nach Stationen bei der Deutschen Telekom Healthcare Solutions und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung ist sie seit 1. August 2022 Geschäftsführerin des Bundesverbandes Gesundheits-IT – bvitg e.V.
Frau Wendling, welche Themen treiben den bvitg gerade um?
Melanie Wendling: Momentan haben wir zwei Schwerpunkte: zum einen die ePA für alle, die vor allen Dingen den niedergelassenen Bereich und dessen Softwareanbieter sehr beschäftigt, zum anderen die Krankenhaus-Informationssysteme, die durch das Krankenhauszukunftsgesetz befähigt werden sollen, die Krankenhäuser durch Digitalisierung wettbewerbsfähig zu machen.
Wie vertreten Sie diese Themen?
M. Wendling: Wir sind in den vergangenen zweieinhalb Jahren sehr gut und vertrauensvoll mit den politischen Stakeholdern ins Gespräch gekommen. Dazu stehen wir im engen Austausch mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft, um uns ein Bild von der Stimmung in den Kliniken zu machen. Einig sind wir uns darin, dass Digitalisierung Zeit braucht – was allerdings im Bundesgesundheitsministerium nicht immer bedacht wird. Über die gematik ist es uns allerdings gelungen, dort auch zunehmend die Position der Industrie einzubringen.
Ist die Digitalisierung die größte Herausforderung für die Krankenhäuser?
M. Wendling: Nicht im technischen Sinne, sondern im Sinne des Change-Managements. Eine Branche transformiert sich, da wird mit gewohnten Arbeitsweisen gebrochen. Da müssen Prozesse umgestellt und im Idealfall neu gedacht werden – was in Deutschland leider zu wenig passiert. Das hängt immer noch maßgeblich vom Bekenntnis und vom Engagement der Geschäftsführungen ab. Es muss uns gelingen, Digitalisierung positiv zu besetzen.
Wie kann Digitalisierung denn funktionieren?
M. Wendling: Auf jeden Fall aus den Gesundheitseinrichtungen heraus. Ich glaube nicht, dass der Staat es besser kann. Ich glaube an Zusammenarbeit und da können und wollen wir als Industrievertretung eine wichtige Rolle spielen. Einfach weil wir immenses Know-how und einen großen Erfahrungsschatz bergen. So treten wir in Diskussionen mit konkreten Vorschlägen auf, wie es gehen kann. Auf diese konstruktive Weise überwinden wir Schritt für Schritt das traditionelle Misstrauen uns gegenüber.

Wie stehen die Patienten zur Digitalisierung?
M. Wendling: Schwer zu sagen. Sie sind sicher von den jahrelangen Diskussionen um elektronische Gesundheitskarte und ePA für alle geprägt, die gegenwärtig eher negativ geführt werden. Stichwort: Datenschutz. Ich würde mir wünschen, dass wir zuerst die Chancen sehen und erst dann die Risiken. Und in den Patientendaten liegen riesige Chancen. Wir leisten uns im deutschen Gesundheitswesen aber ein extremes Nichtwissen, weil niemand über seinen Patienten rundum Bescheid weiß. Das kann die ePA für alle ändern. Wir könnten Doppeluntersuchungen, unerwünschte Nebenwirkungen und sogar Todesfälle vermeiden und viel effektiver in der Versorgung werden.
Studien zeigen, dass Deutschland ein vergleichsweise teures Gesundheitssystem mit vergleichsweise geringem Output hat. Woran liegt das?
M. Wendling: An der mangelnden Vernetzung. Wenn Ihr Hausarzt Sie zu einem Facharzt überweist, ist nicht sichergestellt, dass er auch die Ergebnisse der Untersuchung oder Therapie bekommt. Kein Arzt hat die Zeit, denen hinterherzutelefonieren. Das würde die ePA für alle lösen, sie würde die Vernetzung schaffen.
Also ein klares Plädoyer für die ePA für alle?
M. Wendling: Unbedingt! Nach meiner Überzeugung ist das ein entscheidender Meilenstein in der Versorgung. Der Erfolg setzt aber das Vertrauen der Versicherten voraus. Das heißt auch, offen anzusprechen, dass es hundertprozentige Sicherheit nicht gibt. Allerdings haben wir in Deutschland mit die höchsten Datenschutzanforderungen.